(Oktober 2020) Vom Unfallort über den Transport bis hin zur Behandlung im Krankenhaus – nach einem Unglück zählt in der Notfallversorgung jede Minute. Technologien der Künstlichen Intelligenz haben das Potenzial, die Einsatzkräfte entlang der gesamten Versorgungskette maßgeblich zu unterstützen. Ein neues Forschungsprojekt zeigt, wie KI bei der Behandlung Schwerverletzter hilft.
Im Forschungsprojekt »Leitsystem zur Optimierung der Therapie traumatisierter Patienten bei der Erstbehandlung« (LOTTE) hat das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS gemeinsam mit Partnereinrichtungen aus dem Gesundheitswesen und den Rechtswissenschaften sechs Musterszenarien entwickelt. Das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderte Projekt stellt die datengetriebene Entscheidungsunterstützung in den Mittelpunkt. Im neuen Whitepaper beleuchten Wissenschaftler*innen des Fraunhofer IAIS die Potenziale und Herausforderungen von Künstlicher Intelligenz im Krankenhaus.
Nach Unfällen oder Rettungstransporten kommen lebensgefährlich Verletzte oder »Polytrauma«-Menschen für die sofortige Behandlung in einen speziell eingerichteten Schockraum im Krankenhaus. Die Versorgung erfolgt komplex und unter hohem Zeitdruck. Hier kann Künstliche Intelligenz (KI) das Behandlungsteam künftig durch Entscheidungsunterstützung und Datenanalyse in lebensentscheidenden Maßnahmen unterstützen.
»Gerade in Zeiten einer globalen Pandemie ergeben sich völlig neue Potenziale für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, um im Gesundheitswesen wertvolle Ressourcen zu sparen und Überlastungen abzufedern«, sagt Dr. Jil Sander, Leiterin des Geschäftsfeldes Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS. »Durch die Verfügbarkeit und intelligente sowie datensichere Analyse von Gesundheits- und Lifestyle-Daten der Patient*innen können wir Kliniken und andere medizinische Einrichtungen bei Effizienz- und Qualitätssteigerung unterstützen.«
Auch in der Frühversorgung Schwerverletzter spielen Daten eine entscheidende Rolle, darunter Informationen zum Hergang des Unfalls, Vitaldaten, Vorerkrankungen und Vormedikation, Bildgebungsdaten sowie Messgrößen medizintechnischer Geräte im Schockraum. Methoden des Maschinellen Lernens gewinnen aus diesen Datenmengen Erkenntnisse und liefern dem Schockraum-Team mittels Wissensintegration wertvolle Hinweise.
Um das Potenzial aber auch die Herausforderungen von KI in der Notfallversorgung bestmöglich zu ergründen, setzte das Fraunhofer IAIS im Rahmen des LOTTE-Projekts auf die Zusammenarbeit mit interdisziplinären Fachleuten. Unter der Leitung des Lehrstuhls für Management und Innovation im Gesundheitswesen sowie des Lehrstuhls für Unfallchirurgie und Orthopädie der Universität Witten/Herdecke wirkten am Projekt Experten des Instituts für Rechtsinformatik an der Leibniz Universität Hannover mit. Gemeinsam hat das Team insgesamt 49 mögliche Einsatzszenarien für Digitalisierung und den Einsatz von KI identifiziert. Davon wurden sechs Szenarien mit besonders hohem bzw. relevanten Einsatzpotential priorisiert und im Detail analysiert.
Einsatzszenarien – hier kann Künstliche Intelligenz unterstützen
Die theoretisch entwickelten Lösungen setzen mit einer »Intelligenten Alarmierungskette« direkt am Unfallort an. Hier verwandelt die Technologie den Informationsfluss zwischen Notärzt*innen, Leitstelle und den Fachkräften im Krankenhaus automatisch in Datensätze. So wird der Informationsverlust von der Erstversorgung bis hin zur Einlieferung und der Behandlung im Schockraum auf ein Minimum reduziert und die erhobenen Daten liefern frühzeitig Erkenntnisse für den Behandlungsprozess. Erste Beispiele von datenbasierter Kommunikation aus der Praxis zeigen die Notwendigkeit eines flächendeckenden Einsatzes.
Eine lückenlose Überlieferung lebenswichtiger Informationen ist auch Ziel der »Semiautomatischen Sprachdokumentation«, die im Einsatzszenario rund um die Einlieferung und Behandlung im Schockraum selbst eine große Rolle spielt. Die Übergabe durch das einliefernde notärztliche Team, die bislang in der Regel mündlich vermittelt und selten in strukturierter Form festgehalten wird, kann künftig durch ein KI-gestütztes Sprachsystem mit Mikrofonen im Schockraum digital aufgezeichnet und automatisch in ein strukturiertes Text-Protokoll umgewandelt werden. Sowohl für die interne Qualitätssicherung als auch für den Export in eine Registerdatenbank dient das Protokoll einer detaillierteren aber auch zeitsparenden Nachhaltung der relevanten Informationen.
OP-Risiko einschätzen und bei Entscheidungen unterstützen
Weitere Einsatzszenarien fokussieren auf die Unterstützung bei lebenswichtigen Entscheidungen. Im Szenario »Trajektorien-Klassifikation« erhält das behandelnde Team bereits zu Beginn des Einsatzes im Schockraum einen Überblick über einen möglichen Gesamtverlauf (»Trajektorie«) und kann frühzeitig informierte Entscheidungen treffen. Das System berechnet eine objektive und quantitative Einschätzung der Fallkomplexität und des erwarteten Verlaufs. Das Ergebnis wird dem Team digital visualisiert zur Verfügung gestellt, welches auf Basis der individuellen Erfahrung die vorgeschlagene Behandlungsstrategie nachjustieren kann.
Auch bei der Entscheidung über eine mögliche Operation kann KI das Krankenhaus-Team unterstützen. Denn insbesondere Schwerverletzte tragen ein hohes Risiko, wegen Komplikationen bei Operationen zu versterben. Diese Risiken können auch den potenziellen Nutzen einer Operation übersteigen. Im Szenario »OP-Risikoabschätzung« berechnet das System aus den zur Verfügung stehenden Klinikdaten und den Patient*innen-Daten das individuelle Komplikationsrisiko. Diese Information kann das Team zur Entscheidung heranziehen.
Absicherung für einen rechtlich und ethisch sicheren Einsatz von KI
»Besonders im Gesundheitswesen ist es von erheblicher Bedeutung, dass das Fachpersonal Vorschläge von KI-Systemen zur Behandlung von Patient*innen zukünftig verstehen und nachvollziehen kann. Nur so kann Vertrauen geschaffen und langfristig eine Integration in den Arbeitsalltag ermöglicht werden. Daher denken wir diese Herausforderungen in jedem Schritt unserer Arbeiten mit«, erklärt Jil Sander. »Allerdings müssen ethische und rechtliche Fragestellungen vorab geklärt sein.«
So forschen Wissenschaftler*innen derzeit an Lösungen, um einen »Bias« zu vermeiden, der durch nicht repräsentative Trainingsdaten entstehen kann. Unbeachtet kann dies für bestimmte Bevölkerungsgruppen verzerrende Ergebnisse liefern. Für rechtliche Fragestellungen, etwa hinsichtlich Verantwortung und Entscheidungsgewalt beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz, entwickelt das Fraunhofer IAIS zudem im Rahmen der Kompetenzplattform KI.NRW mit einem interdisziplinären Team und mit Beteiligung des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) einen Prüfkatalog, der die sachkundige und neutrale Bewertung von KI ermöglicht.
Quelle Text: Fraunhofer IAIS
Quelle Bild: © Dario Antweiler, Fraunhofer IAIS