(Juni 2024) Warum „menschzentriert“ und nicht nutzerzentriert? Weil das Produkt nicht nur für den Benutzenden gedacht wird, sondern für alle, die direkt oder indirekt einen Bezug zu dem Produkt haben werden. Dabei geht es nicht – wie oft angenommen – um das „Schönmachen“ von Oberflächen oder zeitgemäße Designs, sondern um das Fokussieren auf die ganz wesentliche Kernfrage: Wie kann ich das Produkt so bauen, dass es seinen Zweck effektiv und effizient erfüllt und begeistert? Um das zu erreichen, benötigt es ein strukturiertes Vorgehen, das damit verbundene methodische Wissen und eine Planung, die schon zum Start des Entwicklungsprojektes einsetzt.
Warum tun wir die Dinge, was ist unser Ziel und wie machen wir das messbar?
Die genauen Aktivitäten des Entwicklungsprozesses sind in der Norm DIN EN ISO 9241-210 zu „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion“ definiert. Sie beschreibt ein iteratives Vorgehen bei der menschzentrierten Gestaltung interaktiver Systeme, das großen Wert auf die Einbeziehung der „echten Benutzenden“ legt sowie auf eine möglichst hohe Diversität des Usability-Teams. Diverse Teams zeigen unterschiedliche Sicht- und Denkweisen im Prozess auf, was große Vorteile für die Aspekte Innovation und „Thinking out of the box“ mit sich bringen kann. Das Einbeziehen von echten Personen, die das Medizinprodukt später anwenden, ist tatsächlich wohl der wichtigste Punkt. Organisatorisch ist das im Projektalltag allerdings oft nicht leicht zu bewerkstelligen. Es ermöglicht, Nutzerverhalten im Rahmen von Prototypen zum einen objektiv zu beobachten und zum anderen subjektive Meinungen einzuholen. Jedes für sich alleine reicht nicht aus, denn die Erfahrung zeigt: Entwicklerteams wissen oft nicht, was Benutzende wirklich brauchen, und Benutzende wissen sogar selbst oft nicht bewusst, was sie eigentlich brauchen. Es geht also grundsätzlich um das objektive Verifizieren von Design-Hypothesen.
Die Norm schlägt folgende Aktivitäten vor:
- Planung der menschzentrierten Ziele im Projekt (Warum tun wir die Dinge, was ist unser Ziel und wie machen wir das messbar?),
- Definition des Nutzungskontextes (Wer hat eigentlich welche Aufgaben mit dem Produkt und wo wird es verwendet?),
- Ableitung von Erfordernissen und Anforderungen, Erstellung von Lösungsentwürfen und
- Verifizierung.
Diese Schritte werden iterativ durchgeführt, bis das Ergebnis den Anforderungen bestmöglich entspricht. Besonders die ersten beiden Aktivitäten sind von großer Bedeutung, deshalb wird im Folgenden näher auf diese eingegangen.
Die frühe Projektphase
Produkte sind nie „per se“ gut oder schlecht im Sinne der Gebrauchstauglichkeit. Man kann dies immer nur mit Bezug zum gegebenen Nutzungskontext bewerten, denn was für den einen Benutzenden passt, kann für den anderen völlig ungeeignet sein. Daher ist es essenziell, den Nutzungskontext vollständig zu verstehen. Im Wesentlichen geht es hier um Informationen über die Benutzenden, wie etwa Demographie, Ausbildung und körperliche Einschränkungen, deren Kernaufgaben mit dem Produkt, die Einsatzorte des Produkts und mögliche weitere Hilfsmittel während der Verwendung. Diese Informationen können durch existierende Lösungen oder Befragungen echter Benutzenden zu typischen Arbeitsabläufen gewonnen werden. Dabei geht es noch nicht um eine Lösungsfindung, sondern man nimmt ausschließlich Informationen des „Problemraums“ auf. Ein Fokus auf „was muss möglich sein“ anstatt „wie ermöglichen wir“ ist wichtig für das Erkennen von Innovations- und Disruptionspotenzialen.
Nachdem die Aufgaben klar definiert sind, dienen sie als Grundlage für die Festlegung konkreter Nutzungsanforderungen an die Lösung. Diese sind Teil der Stakeholder-Anforderungen und aus diesen werden später die technischen Anforderungen an das Produkt – die Systemanforderungen – abgeleitet.
Entwicklungsbegleitende Verifikation der Bedienbarkeit im Usability Lab
Das regelmäßige Hinterfragen der getroffenen Hypothesen und Designentscheidungen und das iterative Prüfen der Arbeitsprodukte sind inhärenter Bestandteil der menschzentrierten Gestaltung. Diese Prüfungen können jederzeit während einer Entwicklung durch Usability-Expert:innen oder mit echten Benutzenden durchgeführt werden.
Es ist empfehlenswert, die iterative Testmethodik von Anfang an im Projekt einzuplanen – beispielsweise durch feste Intervalle oder orientiert an Quality-Gates – und sie an einer klaren Methodik auszurichten. Dazu gehört das Einsetzen von Werkzeugen zur Datenerhebung und -auswertung in einem „Usability Lab“. Ein wichtiger Aspekt ist hier die objektive Beobachtung der Proband:innen. Hierbei können beispielsweise Tonaufnahmen, sogenannte „Think-aloud-Tests“ oder Videoaufnahmen eingesetzt werden, um wichtige Erkenntnisse zu dokumentieren und Designänderungen zu begründen. Die Wahl der Werkzeuge hängt vom Produkt und den Gegebenheiten ab (Bildschirmarbeit, Arbeit an Großgeräten oder robotischen Systemen). In letzterem Fall bieten sich Tracking-Brillen an, die die Benutzenden in seiner Freiheit minimal einschränken.
Ein Usability Lab kann als fester Raum mit separaten Abschnitten für Proband:innen und Testdurchführende eingerichtet werden, idealerweise sogar getrennt durch einen sog. Venezianischen Spiegel. Ist dies nicht möglich oder ist eine größere Flexibilität gewünscht, kann es auch als mobile Variante umgesetzt werden, wobei die Hardware in transportable Koffer einbettet wird und vor Ort schnell aufgebaut werden kann.
Unabhängig von der Ausgestaltung ist es entscheidend, entsprechende Aktivitäten durchzuführen. Der Nutzen übersteigt die Kosten in der Regel in jedem Projekt deutlich.
Usability als Erfolgsfaktor
Große Hersteller haben längst erkannt, dass die Gebrauchstauglichkeit entscheidend für den Erfolg ist und entsprechende Prozesse eingeführt. Die menschzentrierte Gestaltung ermöglicht, dass die Bedürfnisse und Erwartungen der Benutzenden erfüllt und falsche Annahmen frühzeitig erkannt und korrigiert werden können. Die saubere Erarbeitung des Nutzungskontextes eines Produktes eröffnet überdies die Möglichkeit, sich einem Produkt ergebnisoffen, kreativ und innovativ zu nähern, ohne automatisch die Entscheidungen der Vergangenheit zu wiederholen.
Ein strukturiertes Umsetzen dieser Methodiken erzielt sichere, gebrauchstaugliche Produkte, die effektiv, effizient und begeisternd sind und eine Marke dadurch aufwerten. Käufer:innen verbinden positive Emotionen mit den Produkten und empfehlen sie weiter. Dies bietet die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg und das zu überschaubaren Mehrkosten. Eine Rechnung, die aufgeht.
Quelle/Autor: Dr. Christian Hübsch, Senior Manager Healthcare, ITK Engineering GmbH
Quelle Bild: ITK Engineering GmbH