(November 2025) Interview mit Dr. Sebastian Krammer, ehemaliger Arzt an der LMU und Co-Gründer sowie Chief Medical Officer von Avelios Medical.
Warum stagniert der klinische Einsatz von KI in Europa?
mt-medtech: Herr Dr. Krammer, die neue EU-Studie zur „Deployment of AI in Healthcare“ zeichnet ein ernüchterndes Bild: Trotz hunderter Forschungsprojekte bleibt der klinische Einsatz von KI in Europa die Ausnahme. Warum stagniert die Entwicklung?
Dr. S. Krammer: Die Studie spiegelt unsere Erfahrungen in deutschen Kliniken sehr klar wider. Spannende Innovationen und neue Lösungen gibt es viele, doch sie sind nicht in den Alltag der Mediziner:innen integriert. Das bremst uns aus. Die meisten KI-Projekte bleiben in der Pilotphase stecken. Das liegt an fragmentierten IT-Infrastrukturen, mangelnden Datenstandards und komplexen Regulierungen. Viele Ärzt:innen suchen daher nach Alternativen, die sie bei der Patientenversorgung wirklich weiterbringen.
ChatGPT in der Medizin: Fahrlässig oder sinnvoll?
mt-medtech: Ärzt:innen greifen zunehmend zu frei verfügbaren Tools wie ChatGPT. Ist das fahrlässig – oder nachvollziehbar?
Dr. S. Krammer: Beides. Es ist absolut nachvollziehbar, denn der Druck in Kliniken ist enorm und hat seit meiner aktiven Zeit im Krankenhaus sogar noch zugenommen. Arbeitskräftemangel, Überlastung und Burnout sind reale Probleme. Wenn ein Assistenzarzt nachts um zwei eine komplexe Frage hat, möchte er den Oberarzt ungern aufwecken – also sucht er nach anderen Wegen, sich Unterstützung zu holen. Manche wenden sich dann an Tools wie ChatGPT, Gemini oder Perplexity. Doch diese generativen Modelle sind nicht für den klinischen Einsatz gemacht: Sie können halluzinieren, den Patientenkontext ignorieren und stellen ein erhebliches Datenschutzrisiko dar. Im schlimmsten Fall gefährden sie nicht nur Daten, sondern auch die Gesundheit von Patient:innen. Dieses Phänomen eines „Schatten-KI-Modus“ zeigt, wie groß der Bedarf nach sicheren, klinisch validierten Lösungen tatsächlich ist.
mt-medtech: Aber wenn es Ärzt:innen schon heute nutzen – zeigt das nicht, dass der Bedarf riesig ist?
Dr. S. Krammer: Zu einhundert Prozent. Deshalb dürfen wir nicht reflexartig über Verbote sprechen. Ein Verbot löst das Problem nicht. Wir müssen den Ärzt:innen bessere und sicherere Alternativen anbieten. Das sind Systeme, die patientenspezifische Daten, Leitlinien und Vorbefunde zusammenführen und nachvollziehbare Empfehlungen geben. Und das in einer geschlossenen, datenschutzkonformen Umgebung und nicht im offenen Internet.
mt-medtech: Kritiker werfen der Branche vor, seit Jahren „die Integration“ zu versprechen – ohne dass es bei den Ärzt:innen ankommt. Warum sollte es diesmal anders sein?
Dr. S. Krammer: Wir haben einen Punkt erreicht, an dem sich die Integration von KI nicht mehr ignorieren lässt. Die Technologie ist längst ausgereift – und durch Modelle wie ChatGPT auch in der breiten Gesellschaft angekommen. Ärzt:innen erleben tagtäglich, wozu KI fähig ist, und fordern zu Recht praktikable Lösungen für ihren Alltag. Die EU-Studie zeigt deutlich: Interoperabilität und Datenstandardisierung sind der Schlüssel. Genau daran setzen wir bei Avelios an. Unsere Plattform ermöglicht eine strukturierte und zugleich schnelle, effiziente Dokumentation – und die erfassten Daten sind direkt mit internationalen medizinischen Ontologien wie SNOMED CT und LOINC verbunden. So entstehen hochwertige, interoperable Datensätze, die KI-Systeme sicher und sinnvoll nutzen können. Statt immer neuer Insellösungen brauchen wir Plattformen, die KI nahtlos in bestehende Arbeitsabläufe integrieren – vom Aufnahmegespräch über die Visite bis hin zum Entlassbrief. Nur so wird aus einem Pilotprojekt eine echte Entlastung.
Was erwarten Ärzt:innen von KI?
mt-medtech: Aber viele Ärzt:innen wünschen sich nicht nur technische Integration, sondern vor allem sofort verfügbare Unterstützung im Alltag. Wie sieht das konkret aus?
Dr. S. Krammer: Genau das ist der Knackpunkt. Ärzt:innen sind nicht an abstrakten Forschungsprojekten interessiert, sondern brauchen eine Entscheidungshilfe, die sie im Versorgungsmoment konkret unterstützt. Unser Ansatz ist deshalb bewusst zweistufig: Zunächst geht es darum, Leitlinien und bewährte Verfahren fallbezogen bereitzustellen – nicht als seitenlange PDFs, sondern als konkrete Handlungsempfehlungen für die jeweilige Situation. Wenn ich beispielsweise eine Patientin mit Lungenembolie behandle, zeigt mir das System sofort die relevanten Schritte und Empfehlungen an.
Im nächsten Schritt werden dann die Patient:innendaten verknüpft. Werden Laborwerte, Vorerkrankungen oder Risikofaktoren direkt einbezogen, entsteht eine wirklich individualisierte Empfehlung.
mt-medtech: Klingt technisch überzeugend – aber wie wollen Sie sicherstellen, dass Ärzt:innen den Empfehlungen vertrauen?
Dr. S. Krammer: Vertrauen entsteht durch Transparenz. Unser Ziel ist es, Empfehlungen so aufzubauen, dass immer nachvollziehbar bleibt, worauf sie basieren – etwa auf Leitlinien, Studien oder bewährten Verfahren. Wir arbeiten dafür an sogenannten Soft-Decision-Trees, die den Entscheidungsweg sichtbar machen und damit ein hohes Maß an Nachvollziehbarkeit schaffen. Das unterscheidet unseren Ansatz fundamental von Black-Box-Systemen.
Darüber hinaus hat KI das Potenzial, mit der Zeit auch aus der Behandlungspraxis zu lernen – also aus den Einschätzungen und Erfahrungen erfahrener Kolleg:innen. So entsteht perspektivisch ein System, das nicht nur Leitlinien abbildet, sondern auch den klinischen Alltag widerspiegelt – stets erklärbar, nachvollziehbar und unter ärztlicher Kontrolle. KI darf das Urteil des Arztes niemals ersetzen, sondern soll es unterstützen und bereichern.
Finanzierung von KI
mt-medtech: Viele Kliniken kämpfen mit knappen Budgets. Wie realistisch ist es, dass solche Systeme zeitnah Einzug halten?
Dr. S. Krammer: In der EU-Studie wird die Finanzierung als eines der größten Hindernisse benannt. Wir müssen die Rechnung jedoch anders aufmachen. Heute verbringen Ärzt:innen bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation und administrativen Aufgaben. Wenn ein Leitlinien-Bot diese Last reduziert und gleichzeitig die Versorgung sicherer macht, dann spart das enorm Ressourcen – ökonomisch wie menschlich. Kurz gesagt: Solche Investitionen sind keine Luxuslösung, sondern eine Überlebensstrategie für ein überlastetes Gesundheitssystem.
Quelle: PIABO communications



