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Ingo Nöhr und Kumpel Jupp: Folge 4 „Fachbücher“

(November 2023) Mehrere Jahrzehnte lang arbeiteten die beiden Pensionäre Ingo und Jupp in einem großen Krankenhaus. Der Medizin-Ingenieur Ingo sieht optimistisch, sein Freund Jupp, ehemaliger Medizintechniker, eher pessimistisch auf das Weltgeschehen im Gesundheitswesen. Im Ruhestand diskutieren sie den Lauf der Weltgeschichte: Schreibtisch-Planer-Mentalität versus Praxis, zum Schmunzeln.

Folge 4: Wie halte ich mein Fachbuch MPG-gerecht instand?

Vor kurzem traf ich mal wieder meinen Freund Jupp. Nein, diesmal nicht in seinem Wohnzimmer. Es war an einer Informationstheke in einer großen Buchhandlung. Bemerkenswert war, dass die Verkäuferin mich geradezu flehentlich ansah, als ich Jupp begrüßte. Ja, sie schien sogar einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. Mir schwante etwas. Hatte Jupp etwa wieder eine seiner berüchtigten Diskussionen angefangen?

Tatsächlich. Jupp wedelte mit einem dicken Buch, welches sich bei näherem Hinsehen als der erste Band eines Loseblattwerkes über das Medizinprodukterecht entpuppte. „Was habt Ihr denn für ein Problem?“ versuchte ich die Situation etwas zu entkrampfen.

„Dieser Herr will von mir einen Nachweis über meine Kompetenz!“ giftete die Verkäufe­rin zurück.  „Wegen irgendeinem Medizingesetz, weiß der Teufel! Und nur, weil ich immer die Ergänzungslieferungen einsortiere.“

„Das heißt Medizinproduktegesetz … Medizin – Produkte – Gesetz“ widersprach Jupp seelenruhig. „Steht sogar alles hier drin“. Aufreizend hielt er ihr das Buch unter die Nase.

Also doch, Jupp war in seinem Element. Es versprach spannend zu werden.

„Mein Lieber, ich versuche der Dame nun schon seit einer halben Stunde klarzumachen, dass sie mir für die Instandhaltung dieses Produktes die erforderliche Sach­kenntnis nach § 4 der Betreiber­verordnung nachzuweisen hat.“ klärte er mich auf.

Mit strenger Miene belehrte er nun die Verkäuferin über ihre Pflichten: „Nach §4 MPG ist es verboten, Medizinprodukte in den Verkehr zu bringen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie die Sicherheit und die Gesundheit der Patienten, der Anwender oder Dritter bei sachgemäßer Instandhaltung über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften vertretbares Maß hinausgehend unmittelbar oder mittelbar gefährden.“

„Sehen Sie, Medizingesetz und Treiberordnung, sage ich doch dauernd!“, rief die Dame aufgeregt dazwischen. „Was habe ich denn damit zu tun? Sind Sie ein Patient? Der Doktor sitzt im vierten Stockwerk! Sie sind bei mir vollkommen falsch. Und was soll das denn mit der Instandhaltung? Ich habe hier doch keine Werkstatt!“

„Sie, junge Dame, benötigen anscheinend dringend eine Aufklärung über Ihre gesetzlichen Pflichten. Sie bringen hier gewerblich Medizinprodukte in den Verkehr und durch die periodische Aufstockung dieses Produktes durch die Ergänzungslieferungen betreiben Sie Instandhaltung, für die Sie die notwendige Kompetenz besitzen müssen. Ich als Betreiber einer Reihe von Medizin­produkten und insbesondere auch als Anwender muss mich vor der Auftragsvergabe bzw. vor dem Einkauf von Ihrer ausreichenden Qualifikation überzeugen.“ Jupp sprach fast väterlich auf das bedauernswerte Geschöpf ein.

Jupp hatte tief in die Kiste des Medizinprodukterechts gegriffen, er hätte auch einfach auf den zweiten Punkt des §4 MPG hinweisen können, der das Verbot des Inverkehrbringens ausspricht, wenn das Datum abgelaufen ist, bis zu dem eine gefahrlose Anwendung nachweislich möglich ist. Bei einem schlampigen Update-Service fehlen eventuell wichtige Informationen im Loseblattwerk oder sind nicht mehr auffindbar.

Die Stimme unseres Gegenübers hob sich um eine halbe Oktave: „Medizinprodukte? Ich fasse es nicht. Das sind doch Bücher, alles Bücher! Wo sind denn hier Medizin­pro­du­kte im Laden? Sehen Sie hier etwa welche? Gehen Sie hoch zum Doktor! Der hat bestimmt eine Menge von diesem Kram!“

Hilfesuchend heftete sich ihr Blick an mir fest. „Bitte, können Sie diesen Herrn nicht mal zum Doktor hochbegleiten? Er hat sich bestimmt im Stockwerk vertan.“

Ich war also gefragt, holte erstmal bedeutungsvoll tief Luft und wandte mich mit einer fachmännischen Geste an meinen Freund. „Interessant der Ansatz, Jupp. Also Medizin­produkte. Erkläre mir bitte mal Deine Argumentation genauer.“ Ein dankbares Seufzen entsprang ihrer heftig bebenden Brust.

„Also mein lieber Ingo, die Sachlage ist doch klar. Wir haben es hier mit Gegenständen zu tun, die vom Hersteller

  1. zur Anwendung für Menschen mittels ihrer Funktionen zum Zwecke der Kompen­sierung von Behinderungen (Kenntnislücken geistiger Art diesmal) und der Veränderung eines physiologischen Vorgangs (nämlich dem Aufbau von Gedächtnisengrammen in der weißen Hirnrinde) zu dienen bestimmt sind.
  2. Die Wirkung erfolgt invasiv über eine Körperöffnung (über das Auge – Sehnerv- System und wenn ich laut lese, über das Ohr). Die Anwendung ist von vorübergehender Dauer für therapeutische Zwecke vorgesehen.
  3. Für das einwandfreie Funktionieren des Medizinproduktes (hier die Informations­übertragung) dient die eingesetzte Software in Form der fachlichen Beiträge in den Ergänzungslieferungen.

Nach Regel 5 der Klassifizierungs­kriterien ist das Loseblattwerk als ein Medizinprodukt in die Risikoklasse I einzuordnen.“

Eine interessante Abhandlung, aber ich hatte meine Richtlinie auch im Kopf: „Einspruch, lieber Jupp. Da ich solche Bücher in der Regel länger als eine Stunde ununterbrochen lese, ist meiner Meinung nach nicht von einer vorübergehenden, sondern von einer kurzzeitigen Dauer der Anwendung auszugehen. Beim Lautlesen überwinde ich zudem das Trommelfell im Gehörgang, in diesem Fall ist das Buch in die Risikoklasse II a einzuordnen. Also erwarte ich ein CE mit der Ziffer der Benannten Stelle.“

Die Verkäuferin starrte mich mit entsetzten Augen an.

„Mein Gott“, stammelte sie, „Sie sind ja auch so einer von der Sorte. Herr steh mir bei! Was haben Sie für ein Problem mit Ihrem Trommelfell? Wollen Sie jetzt etwa auch so ein Zeh-Zeichen auf dem Buch sehen?“

„Viel schlimmer, gnädige Frau. Es heißt übrigens CE-Kennzeichen“ Ich bemühte mich in Anbetracht ihrer nervlichen Verfassung um eine sehr behutsame Vorgehensweise. – „Vielleicht ist es aber gar nicht nicht notwendig. Lassen Sie uns mal die Ausnahmefälle betrachten.“

„Definitionsgemäß könnte es sich beim Einsortieren dieser Ergänzungslieferung um eine Aufbereitung handeln, da der vorherige Sollzustand nicht wiederher­gestellt, sondern um wesentliche Merkmale erweitert wird. Aber das Medizinproduktegesetz hat diese Anfor­derungen in den letzten Revisionen ja neu geregelt. Es wäre zunächst die Frage des erstmaligen Inverkehrbringens zu betrachten.“

Dieses Statement sollte eigentlich meine Gesprächspartnerin beruhigen, aber der Effekt blieb leider aus. So fuhr ich mit meinen Betrachtungen ungerührt fort: „Also lassen wir mal den Aspekt der Aufbereitung beiseite. Wie steht es mit der Eingruppierung als Sonder­anfertigung? Nun, hier gilt leider die Ausnahmeregelung: Das serienmäßig herge­stellte Medizinprodukt, das ange­passt werden muss, um den spezifischen Anforderungen des Arztes, Zahnarztes oder des sonstigen beruflichen Anwenders zu entsprechen, gilt nicht als Sonderanfertigung.“

Ihrer Augen wurden noch größer, der Kiefer klappte herunter, der Atem kam nun in kurzen Stößen.

„Ha, sehen Sie! Das ist doch, was ich Ihnen von Anfang an sage. Damit bringen Sie als Hersteller ein neues Medizinprodukt in den Verkehr und sind nun selbst für die Konformitätsbewertung verant­wortlich. Jetzt brauchen Sie sogar eine Benannte Stelle für Ihr CE-Kennzeichen, bevor Sie dieses erweiterte Loseblattwerk verkaufen können.“ assistierte Jupp aufs Stichwort.

„ICH … HABE … DIESES … BUCH … NICHT … HERGESTELLT!“ stammelte unser armes Opfer, am Ende der Nervenkraft.

„Da könnte sie recht haben, Jupp“, wagte ich einzuwenden. „Als Angehörige einer Einrichtung, die der, in diesem Falle geistigen, Gesundheit dient, sowie als sonstige Person, die Medizinprodukte in der Ausübung ihres Berufes in den Verkehr bringt, würde ich sie eher unter die Definition der Fachkreise zuordnen.“

„Wissen Sie was, Sie …  Sie …  Sie …“, krampfhaft suchte sie nach dem passenden Schimpfwort. „Sie … Sie … Juristen, jawoll, JURISTEN! Das sind ganz besonders üble Fachkreise, welche meine geistige Gesundheit gefährden. Juristen der höchsten Risikoklasse, das sind Sie! “

Mit aller Inbrunst schleuderte sie uns dieses Unwort entgegen. Augenscheinlich kehrte allmählich ihre geistige Handlungsfähigkeit zurück. Sie startete mit einer interessanten Interpretation: „Nun hören Sie mir mal vorübergehend zu. Öffnen Sie kurzzeitig Ihr wertes Trommelfell im Gehörgang. Jetzt werde ich mich mal instand halten. Aber so richtig thera­peutisch. Damit ich wieder in meinen Sollzustand zurück­kehre.“

Wütend warf sie den Bestellblock auf den Tisch und riss sich das Namensschildchen von der Bluse. „Und danach werde ich mich wieder Inverkehrbringen. Aber bestimmt nicht mehr in diese Buchhandlung. Sondern um wesentliche Merkmale erweitert. Da, wo ich mit solchen Antreibern und Bewendern wie Ihnen nichts mehr zu tun haben werde. Ich kündige!!!“

Schade eigentlich. Wir hatten uns noch gar nicht über die Form der Funktionsprüfung und der Dokumentation nach erfolgter Instandhaltung unterhalten.

Quelle Text: Manfred Kindler im Medizintechnikportal-Archiv

Quelle Bild: www.medi-learn.de

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